Martina Altschäfer

Christoph Peters: Martina Altschäfer, Hohes Gebirge
(2021)

Seit Menschengedenken sind die Gipfel der Berge Sehnsuchtsorte und verbotene Zonen, Übergangsräume zwischen Himmel und Erde, Stofflichem und Unstofflichem, Physischem und Metaphysischen. Sie gelten als Sitz der Götter oder dämonischer Mächte, die für ein freundliches Schicksal, die Abwendung von Zorn oder Strafe mit Opfern, Prozessionen, Gebeten gnädig gestimmt werden müssen.

mehr lesen

Dort, in der Höhe, ragt der irdische Raum am tiefsten in die Unendlichkeit des Kosmos. Fast scheint es, als folge die schwere Masse träger Materie, indem sie sich zu Gebirgen auftürmt, einer ihr eigenen Transzendenz, wachse über sich selbst hinaus, um sich der Sonne zu nähern – dem Ursprung von Licht und Wärme, ohne die kein Leben möglich wäre.

Nirgends auf der Erde strahlt dieses Licht intensiver als auf den schneebedeckten Bergen. Es ist hart und klar, lodernd und still, warm und kalt. Von Gletschern, Eisflächen schmerzhaft weiß reflektiert, gibt es eine Ahnung des ewigen Lichts – der ursprünglichen Energie, aus der alles geworden ist. In der reinen Luft oberhalb der Schneegrenze hat es eine noch größere Kraft als in schattenlosen Wüsten. Binnen kurzer Zeit fügt es der Haut schwere Verbrennungen zu, zerstört die ungeschützten Augen beinahe so schnell, wie der direkte Blick ins Feuer der Sonne.

Bei klarem Wetter erscheinen die Berge in ihrer Erhabenheit unerreichbar fern, an verhangenen Tagen, in dunkle Wolken gehüllt, wirken sie wie Brutstätten des Unheils. Das Wissen um die Vernichtung, die jederzeit aus der Höhe herabbrechen kann, reichte Jahrtausende lang aus, um die Menschen – wehrlos, ohnmächtig, verschwindend gering – auf Abstand zu halten.

Niemand wusste, welche Mächte und Gewalten ein unbedachter Wanderer, größenwahnsinniger Entdecker aus ihrer abgeschiedenen Ruhe reißen würde, welche Geister, Dschinn oder Kami er durch unbedachte Schritte, achtlose Gesten, keuchenden Atem in Rage versetzte, so dass sie in ihrer entfesselten Wut Verderben und Tod über die Bewohner der umliegenden Täler brachten: Erdrutsche, Steinschlag, Lawinen und Sturzfluten, denen kein Wehr, keine Mauer, kein Haus standhielt.

Wer sich trotzdem hinauf begab, war unvorhersehbaren Wetterumschwüngen ausgesetzt, Sturmböen, Kälteeinbrüchen, Eisregen selbst im Hochsommer. Männer, die alle Warnungen in den Wind geschlagen, Mahnungen verlacht hatten, hochmütig und siegesgewiss aufgebrochen waren, die Baumgrenze überschritten, Grasmatten, bemooste Geröllfelder hinter sich gelassen hatten, wurden nie wieder gesehen, und falls die Hüter der Berge doch einmal einen lebend entließen, kehrte er blind oder dem Wahnsinn verfallen zurück, zur Warnung für alle.

Überall auf der Welt wurden Berge als heilige Orte und Wallfahrtsstätten verehrt: Den alten Griechen galt der Olymp als Sitz der Götter; Noahs Arche lief auf die Spitze des Berges Ararat, als die Flut fiel; der Kailash in Tibet gilt unter Hindus, Buddhisten, Jain und Bön bis heute als Verkörperung des Berges Meru, der das Zentrum des gesamten Kosmos’ bildet. Seine Umrundung in Andacht und Gebet, von vielen Pilger in einer mühseligen Bewegungsfolge aus Schritten, Kniefällen, Niederwerfungen vollzogen, tilgt alle Sünden. Wer ihn 108 Mal umkreist hat, erlangt Erleuchtung und geht ins Nirwana ein. Außer dem heiligen Yogi und Einsiedler Milarepa (1052-1135) hat jedoch nie jemand den Gipfel betreten. Selbst Reinhold Messner, der 1985 als erster und bislang einziger Mensch der Neuzeit eine Genehmigung für die Besteigung erhielt, verzichtete schließlich darauf – ob aus Respekt vor den religiösen Gefühlen der Tibeter oder aus Angst, die Berggeister zu erzürnen, wissen wir nicht.

Geologisch betrachtet, haben sich die meisten Gebirge an den Nähten der Kontinentalplatten gebildet, die auf dem flüssigen Glutkern der Erde schwimmen und sich durch das Zusammenwirken der elementaren Kräfte in unaufhörlicher Bewegung befinden. Dort, wo sie aufeinander stoßen, werden sie zusammengestaucht, gefaltet, emporgehoben. Schon während der Aufwerfung setzt die wiederum Jahrmillionen dauernde Einebnung der Höhenzüge durch Wind und Wetter, mechanische und chemische Prozesse ein, bis aus steil aufragenden, schroff zerklüfteten Felswänden wieder sanfte Hügel und am Ende weite Ebenen werden. Herausragende Einzelberge wie der Kilimandscharo, der Popocatépetl oder der Fuji-san entstanden beziehungsweise entstehen dagegen als direkte Ablagerung glühend heißer Lava, die durch ungeheuren Druck aus dem Erdinneren herausgepresst oder geschleudert wird und Schicht um Schicht zu gewaltigen Felsmassiven erkaltet.

Während die Menschen früherer Zeiten in ihrem Umgang mit den Bergen von heiliger Scheu angesichts der sichtbaren und unsichtbaren Kräfte geprägt waren, wirkt spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhundert, als neben dem unaufhaltsamen Aufstieg der Naturwissenschaften auch der Alpinismus allmählich in Mode kam, jedes vorgebliche Rätsel, jedes Tabu als umso stärkerer Antrieb, eben diese Grenzen zu überschreiten und in die letzten unentdeckten Winkel, zu den höchsten Gipfel und in die dunkelsten Höhlen vorzudringen.

Das Unerforschliche gilt nicht länger als Hinweis auf die undurchdringlichen Tiefen einer unendlich vielgestaltigen Schöpfung, ohne die das Leben zu einer grauen Asphaltbahn zwischen zufälliger Geburt und sinnlosem Tod würde, sondern es ist vor allem Ansporn, neue Messgeräte, Analyseverfahren, Forschungsmethoden zu entwickeln. Längst ist es Teil der wissenschaftlichen und politischen Doktrin nahezu aller Gesellschaften weltweit, dass nichts ungesehen, unerforscht und erst recht nicht unverstanden bleiben darf, denn damit stünde es außerhalb unserer totalen Kontrolle und Verfügungsgewalt. Dementsprechend gehört die Überzeugung, dass selbst den größten Mysterien banale oder zumindest nachvollziehbare Ursachen zu Grunde liegen, zu den unhinterfragbaren Dogmen des gegenwärtigen Fortschrittsglaubens. An die Stelle der ursprünglichen Demut vor den Geheimnissen der Natur und des Lebens, denen sich der Mensch behutsam und achtungsvoll zu nähern hatte, sind technokratische Aufklärungsobsession und bedingungsloser Zugriff getreten. Darüber ist die Suche nach Wissen und Wahrheit zur reinen Geländesondierung verkommen. Bei der Erforschung der Welt geht es nicht länger um Erkenntnis, sondern lediglich um die Frage, ob sich nicht auch im unwegsamsten Gebiet noch kostbare Bodenschätze abbauen, Energie gewinnen, Möglichkeiten touristischer Erschließung entwickeln ließen.

Auf der Passhöhe des St. Gotthard wurden jüngst Windkraftanlagen eingeweiht; Handymasten garantieren störungsfreien Empfang auf nahezu jedem Gipfel der Alpen; Seilbahnen, Lifte, Hubschrauber bringen präsenile Großstädter in Turnschuhen auf Bergspitzen, die vor hundert Jahren allenfalls nach intensiver Vorbereitung und in Begleitung eines erfahrenen Bergführers hätten erreicht werden können. Selbst die Besteigung des Mt. Everest ist inzwischen nur noch eine Frage des Geldes.

Auch die Hochgebirge, die neben den Wüsten dem Expansionsdrang des Menschen am längsten standgehalten haben, zeigen mittlerweile überall die Wunden und Narben unserer Eingriffe. Waghalsige Brückenkonstruktionen, freitragende Betonwände, massive Bunkeranlagen, nackte Stauwehre schieben sich zwischen die Steilhänge, schneiden sich in den Fels. Selbst auf den abgelegensten Hochebenen demonstrieren Wetterstationen, Stromtrassen, Kanalsysteme die Totalität des menschlichen Herrschaftsanspruchs. Wo früher Opfergaben dargebracht, Gipfel- und Wegkreuze, Gebetswimpel aufgestellt waren, flattern jetzt Fahnen von Hotelbetreibern und Reiseveranstaltern. Windstöße treiben Plastiktüten, zerrissene Papiere, leere Wasserflaschen vor sich her.

Und trotzdem: Wer in innerer Ruhe und offenen Auges am Fuß eines eisbedeckten Gipfels steht und hinaufschaut, die unendlichen Schattierungen von Weiß in den Rissen, Spalten, Abbrüchen eines Gletschermassivs betrachtet, den gegenläufigen Rhythmen in den über- und ineinandergeschobenen Felsformationen folgt, den unendlichen Nuancen der Grüns, Graus, Rots und Brauns nachsinnt, spürt angesichts der Majestät der Berge mehr als irgendwo sonst, dass es sich auch bei der unbelebten Natur keineswegs um tote Materie handelt, sondern dass selbst das Gestein beseelt und Teil einer unüberschaubar vieldimensionalen Ordnung ist, die weit über das wissenschaftlich Beschreibbare hinausreicht.

Schon auf der Ebene des Sichtbaren herrschen Gesetze von Form und Farbe, die sich mit keiner mathematischen, chemischen oder physikalischen Formel erfassen lassen. Nichts bewegt sich außerhalb von Proportion und Komposition. Je mehr wir unseren Blick schulen, die Wahrnehmung verfeinern, umso genauer erkennen wir, dass all dem, was wir außerhalb unserer selbst sehen, Ausdruck innewohnt und mit dem korrespondiert – in Resonanz tritt –, was wir in unserem Inneren, aller modernen Rationalität zum Trotz, noch immer ahnen. Auch wenn unserem Denken inzwischen nahezu alles, was unsere Vorfahren geglaubt und verehrt haben, fremd ist, werden wir, sobald wir uns ins Gebirge aufmachen, zu Wanderern, zu Suchern, zu Fragenden, Tastenden. Jeder Schritt gerät zum Schritt ins Unbekannte, schwankt zwischen Mut und Furcht, und spätestens wenn wir den Weg verloren haben, während die Sonne hinter dem hohen Horizont versinkt, werden wieder die Stimmen der Geister in Gräsern, Zweigen, Felsspalten zu hören sein. Wir werden lauschen und zittern, lauschen und schweigen, schweigen und atmen, bis eine Antwort durch uns hindurch fährt, unhörbar leise oder als Schrei.

Christoph Peters: Nach einer Anzahl namenloser Tage
(Erzählung, aus Katalog „Terra”, 2014)

Keiner von ihnen wußte, was damals geschehen war. Anfangs behauptete Mika, daß es Jahre, Monate, vielleicht auch nur Stunden vorher, Warnungen gegeben hatte, etwas Schreckliches werde geschehen, Meteoriteneinschläge in Folge eines kosmischen Bebens, der Einsturz der Atmosphäre. Dann hatte die Farbe des Himmels plötzlich, mitten an einem warmen Sommertag von hellem Blau zu opakem Violett gewechselt, es war totenstill geworden, ehe die große Dunkelheit sich über Städte und Landschaften ausbreitete, als hätte die Sonne ihr Gesicht abgewandt. Der Mond und die Sterne verschwanden, wenig später erloschen alle Lampen, Laternen, Leuchtstoffröhren. Die Menschen mühten sich, Feuer zu entzünden, doch die Zusammensetzung der Luft hatte sich verändert, so daß nichts mehr brannte. Was sie auch versuchten, keine Flamme flackerte auf, nicht einmal Funken ließen sich schlagen. Eine Decke aus Finsternis umhüllte die Erde. Darunter fanden unvorstellbare Umwälzungen statt, doch es gab niemanden, der sie bezeugen konnte.

mehr lesen

Sehr viel später, als dort, wo einmal der Süden gewesen war, eine Art fahler Dämmer aufging, hatte nichts von den Dingen des Früher überdauert. Die Gebäude waren zu Schotter und Staub zerfallen, aus dem hier und da Stahlskelette, Reste von Mauern, abgerissene Kabelstränge ragten. Etwas, das dem Gras ähnelte, aber weicher war und von einer Wärme wie Haut, wucherte vielerorts aus Schutt, verödeten Flächen. Fremde Arten Buschwerk brachen hervor, deren Formen den Pflanzen des Regenwaldes ähnelten statt den kargen Gewächsen nördlicher Forste, breiteten sich mit lautloser Geschwindigkeit aus, wie Krakenarme, die über zerklüftete Riffe glitten. Eine Art neuer Schöpfung hatte begonnen, beinahe geräuschlos, nur hier und da ein Rascheln oder Schaben von weichen Oberflächen, die sachte gegeneinander rieben.
In dieser unbekannten Welt hatten sie die Augen aufgeschlagen, Mika, Kirai, Ulan, Sinje, Aylin, Lara, Ruth. Sie hatten einander angesehen und nicht gewußt, ob sie zuvor schon verbunden gewesen waren, an welchem Ort, auf welche Weise. Sie hatten sich aufgerichtet, waren zögernd, aber ohne Furcht aufeinander zugegangen. Erst jeder für sich, dann gemeinsam hatten sie nach Wörtern mit vertrautem Klang gesucht, die noch dieselbe Bedeutung besaßen wie in der Erinnerung, hatten sie vorsichtig über die Lippen gebracht: „Haar“, „Mund“, „Baum“, „Wasser“, „Erdreich“.
„Gib mir deine Hand“, hatte Aylin zu Ruth gesagt.
„Es ist warm, obwohl die Sonne nicht scheint“, Ruth.
„Wie nennen wir das, was an die Stelle des Himmels getreten ist“, hatte Mika gefragt.
Darauf war ein langes Schweigen gefolgt.
Die Zeit, die seither vergangen war, ließ sich nicht bemessen. Zwischen Tagen und Nächten bestand kein wahrnehmbarer Unterschied, weder gab es Wetterwechsel noch Jahreszeiten. Nachrichten aus anderen Dörfern, Städten, Ländern gelangten nicht zu ihnen – wenn es überhaupt andere Dörfer, Städte, Länder gab. Die Gegend, in der sie sich befanden, glich kaum mehr den immer verschwommeneren Bilder des Früher in ihrem Gedächtnis. Die alten Kommunikationsmittel und Datenwege waren zerstört, und allmählich verblaßte auch die Erinnerung an all die Gerätschaften und Abläufe, die das Leben der Menschen vor der großen Dunkelheit bestimmt hatten. Die Sehnsucht nach einem lichteren Ort verlor sich ebenso wie die namenlose Trauer über die, die mit ihnen dort gewesen und zurückgeblieben waren, ohne irgend eine Spur ihrer Auslöschung zu hinterlassen. Mehr und mehr gewannen Zweifel die Oberhand, ob es überhaupt eine Zeit vor der Dunkelheit und sie selbst in ihr gegeben hatte.
„Vielleicht waren es Träume“, sagte Ruth.
„Aber jemand muß uns geboren haben,“ Sinje.
„Wahrscheinlich hat uns das Erdreich hervorgebracht“, Ulan.
Sie hatten keine drängenden Wünsche und keine Ziele, die sie erreichen wollten. Ohne Not gingen sie hierhin und dorthin, kamen weder dem Horizont näher, noch gelangten sie in anders geartete Gegenden: Überall der gleiche Anblick wuchernder Vegetation, in deren Gefolge schöne und einfache Lebewesen aus: Insekten, Reptilien, Vögel. Eßbare Früchte mit angenehmem Geschmack wuchsen an Bäumen und Sträuchern, das Wasser in den Bächen war würzig und süß, so daß niemand je Hunger oder Durst litt. Sie lagerten in offenen Hainen, flochten Schnüre aus Pflanzenfasern, verbanden sie mit dicken Zweigen zu Hängematten und Schaukeln, die sie an kräftigen Ästen befestigten. Im endlosen Vor und Zurück sprachen sie vertraute Sätze, aus denen nichts folgte. Die Lust, wenn sie einander berührten, ineinander drangen, war unbeschwert, kein Schatten aus Eifersucht oder Neid fiel darauf.
Hätte es etwas wie Unglück gegeben, wäre ihr Leben das Glück gewesen, so aber zog es bloß widerstandslos dahin.
Trotzdem blieb ein Unruhe. Und sie wuchs.
„Wir müssen vor dem Jetzt gewesen, sonst wüßten wir nicht, was wir wissen“, sagte Mika.
„Aber wir wissen doch nichts“, Ruth.
„Wir beherrschen die Namen der Dinge und alte Spiele. Wir greifen nach dem Eßbaren und tasten das Ungenießbare nicht an,“ sagte Sinje.
„Jeder von uns kennt die Rufe des Tigers, obwohl keiner ihm begegnet ist“, Kirai.
„Früher haben wir ihn gefürchtet, jetzt nicht mehr“, Ruth.
„Ich will wissen, was war, warum es nicht mehr ist und wie es anders sein könnte“ sagte Mika.
Der Satz hallte nach. Er schlug einen Haarriß in die versiegelten Flächen ihres Innern, im selben Moment drang etwas ein, das bis dahin nicht oder nicht mehr vorhanden gewesen war.
Ruth spürte es zuerst und deutlicher als die anderen. Sie erschrak, wie sie sich nie erschrocken hatte, seit sie die Augen geöffnet hatte. Mitten im sanftesten Schaukeln griff sie nach einem Ast, hielt die Bewegung mit einem Ruck an, sprang hinunter, ohne zu wissen, was sie jetzt tun sollte. Nur daß sie fort mußte, stand fest – wohin auch immer.
„Was ist mit dir?“ rief Kirai.
Sie antwortete nicht.
„Laß sie, ich habe das Falsche gesagt“, sagte Mika.
„Das hast du“, sagte Ruth. „Und es gibt kein Zurück. Alles hat sich von Grund auf verändert.“
Ulan und Lara sahen einander in die Augen, gaben sich die Hand. Aylin liefen Tränen die Wangen hinunter.
„Früher oder später mußte etwas passieren“, sagte Mika.
Sinje nickte.
„Sieben sind zu viele“, fuhr er fort, „als daß sie auf immer ein Herz und eine Seele hätten sein können. Wenn ihr mich fragt…“
„…dich fragt niemand mehr“, schrie Aylin.
„… wir waren längst ein Lügengespinst. Jetzt ist es offenbar geworden. Etwas Neues beginnt, ob ihr es wollt oder nicht.“
Ruth lief zum Rand der Lichtung, warf sich auf den Boden verschwand mit der Geschwindigkeit einer Echse im Unterholz. Die Stimmen, die nach ihr riefen, klangen bald nur noch aus weiter Ferne herüber. Rings herum krabbelten Käfer, flatterten Schmetterlinge in tausend Farben. Agamen, Warane, Chamäleons aus Türkis, Rubin, Smaragd huschten über ihre Arme. Schlangen, deren Häute schimmerten wie dunkles Metall, schmeckten züngelnd die Veränderung der Salze auf ihrer Haut. Erstmals seit dem Tag, als ihre Erinnerung einsetzte, spürte Ruth Unbehagen angesichts der fremden Wesen. Die Fraglosigkeit zerbröckelte wie trockener Lehm, wenn die Hand sich zur Faust schloß. Sie kauerte in einer Mulde, senkte den Kopf, schlang die Arme um ihre Knie. In dieser Haltung wollte sie bleiben. Die Pflanzen sollten sie überwuchern, kleine Vögel ihre Nester, riesige Spinnen ihre Netze rings herum bauen, daß keiner sie je wieder fände.
Bei den anderen, am letzten gemeinsamen Lagerplatz, herrschten Ohnmacht und Schmerz.
Lara hielt Ulan umklammert, Aylin schluchzte.
„Wir waren seit Anbeginn zusammen. Wenn wir uns trennen, wird sich keiner mehr auskennen“, sagte Kirai.
„Nichts kann zurückgenommen werden“, sagte Mika. „Das Band ist zerschnitten.“
„Weiß denn einer, wie man in den Unterscheidungen lebt“, fragte Sinje.
„Dort draußen lauert das, was wir nicht kennen. Solange wir es nicht kannten, konnte es uns nichts anhaben. Jetzt sind wir ihm ausgeliefert“, sagte Lara.
„Wer weinen will, soll weinen, wem nach Zittern ist, der zittere.“
„Du hast uns geopfert, weil der dunkle Wille über dich herrscht“, flüsterte Aylin.
„Bleibt, wo ihr seid, vergeht vor Angst“, fuhr Mika fort. „Niemanden kümmert das. Auch wenn ihr es nicht wahrhaben wollt: Um uns herum herrscht nichts als überbordende Leere. Wir haben sie für ein nach Maß und Schönheit geordnetes Ganzes gehalten, erschaffen von guten Mächten zu unserem Wohl. Das war eine Täuschung. Fortan spielt es keine Rolle mehr, ob ihr zu zweit oder zu siebt oder Tausende seid: Jeder steht für sich, ganz gleich wie eng ihr zusammenrückt.“
„Was wirst du tun?“ fragte Sinje.
Am Horizont erhob sich ein sirrendes Geräusch, zusammengesetzt aus Millionen Lautpartikeln, näherte sich, schwoll an, nahm ab, schwoll an, als in sich bewegter Schatten dehnte es sich aus, zog sich erneut zusammen, kam näher, füllte weite Teile des oberen Raums….
„Es sind Vögel“, rief Mika, „nur Vögel auf dem Weg von hier nach dort.“
Ein gewaltiges Rauschen, das jedes Wort übertönte, zog über sie hinweg.
„So ist es ab jetzt“ sagte Lara, als die Stille zurückgekehrt war. „Wir werden nie wieder sicher sein.“
„Habt ihr es noch nicht verstanden?“ sagte Mika. „Endlich können wir etwas tun, das zählt. Uns hält nichts mehr.“
Er sprang auf, griff nach einer der glatten Holzstangen, mit denen sie unbeschwerte Tanzspiele gespielt hatten, ließ sie über seinem Kopf kreisen, so kraftvoll und schnell, das die Luft erzitterte.
„Hör auf damit, hör auf!“ schrie Aylin.
„Ich werde weiter fortgehen, als die Welt sich in der größten eurer Vorstellungen ausgedehnt hat. Ich werde kämpfen und töten, bis das Wissen um das Verborgene sich mir enthüllt. Und ich werde Nachkommen haben.“
„Ich gehe mit dir“, sagte Sinje.
„Erst müssen wir Ruth finden“, sagte Ulan. „Sie ist verloren allein.“
„Es gab keinen Grund fortzulaufen, es ist ihre Sache.“
„Sie gehört zu uns“, sagte Kirai.
„Dann ist es entschieden: Ab jetzt sind wir getrennt. Nichts was ihr tut, kümmert mich noch.“
Näher als je zuvor hörten sie jetzt das Brüllen des Tigers. Erstmals erfüllte es keinen von ihnen mit freudigem Schauder
Mika drehte sich um, schlug mit seinem Stab eine Bresche in die Wand aus Stämmen, Zweigen, Laub. Holz barst, Echsenfüße, Schmetterlingsflügel, Schlangenköpfe wurden umhergeschleudert, er wütete und tobte, ächzte und schrie, dann endlich tat sich eine Öffnung auf, durch die er aufrecht gehend verschwand.
„Ich bin mit Mika“, sagte Sinje und folgte ihm nach.
Ruth saß regungslos, seit sie ihren Platz gefunden hatte. Als zwei schwarze Punkte inmitten glühenden Bernsteins sie durch Blätter und Zweige ansahen, lächelte sie. Beinahe lautlos schob die Pfote das Astwerk zur Seite, der warme Atem des Tiers berührte ihre nackte Schulter.
Nachdem sie die ausgedehnten Wälder der Ebene hinter sich gelassen hatten, erreichte Mika mit Sinje kühlere Gegenden. Auf Grassteppen folgten zerklüftete Felstermassive, die in schneebedeckte Höhenzüge übergingen. Sie fanden Steine, aus denen sich Funken schlagen ließen, lernten, wie man Reisig entzündet. Sinjes Bauch wölbte sich, ihre Brüste waren prall. Sie gebar eine Tochter und nannte sie „Nur“, das heißt „Licht“. Alles begann von vorn.

Clemens Jöckle: Schwarz-Weiss, 5 Holzschnitte
(2008)

Die Auseinandersetzung mit Fläche und Linie, die Hervorhebung des Gegensätzlichen mit der Plastizität des Körperlichen und dem arabesken Ornament beherrschen die fünf Holzschnitte von Martina Altschäfer. Das Plastische erzeugen die Figuren in ihrer Erscheinung auf jedem Blatt. Die Künstlerin geht bei ihrer Komposition vom Hintergrund aus, der die tiefste definierte Bildebene darstellt und schält mit der subtraktiven Methode des Holzschnittes einzelne Schichten der Bildgegenstände heraus. Zuletzt schiebt sie gleichsam von unten her den Handlungsraum der Figuren in das Bild, so dass sie wie auf einer Folie in einem eigenen Bezugssystem vor den Bildhintergründen angeordnet sind. Dabei wird entgegen der beim Holzschnitt verbreiteten Methode, ausschließlich fest umrissene starke Konturen als Begrenzungslinien einzusetzen, eher ein Spiel um Licht und Schatten anstelle der beschreibenden Kontur eingesetzt.

mehr lesen

Auf dem Blatt „Mit Begleiter“ scheint der Schatten der Anatomie einen Streich spielen zu wollen, denn die stehende Figur erhält neben dem herabhängenden Arm durch das Schattenbild ein drittes derartiges Gliedmaß. Aber wie der Titel sagt, ist dies der Schatten in seiner Begleiterrolle, indem er wie eine Kontur die Figur umfängt. Bei der Unentschiedenheit zwischen Gewandfigur und stehendem Akt bleibt offen, ob die breiten Konturen als Schatten einen Lendenschurz andeuten.
Nervöses Ornament auf der Oberfläche lässt die stehende Gestalt in dem Blatt „Wasserschale“ mit dem Raum und der floral-ornamental erscheinenden Landschaft verschmelzen. Der Körper erscheint als helle Silhouette und Schatten als begleitende streifenförmige Fläche seitlich des herabhängenden Armes. Nur durch ihre Präsenz erzeugt die Figur Räumlichkeit.

Zwei Schwestern in expressiven, in der tradierten Ikonographie an Trauer und Verzweiflung gemah- nender Gebärde sind als Folie vor einem kleinteilig abstrahiert ornamentalen Hintergrund „ausgeschnitten“. Sie zählen aber zu einer weiteren Bildebene, die ähnlich wie bei einem Scherenschnitt auf die Papierfläche projiziert ist. Die Schwestern überschneiden den Hintergrund, deswegen haben die Konturlinien bei den Beinen auf dem makellosen Blattstreifen ihre traditionelle die Gliedmaßen umschreibende Aufgabe, während sie im Motiv des trostvollen Ergreifens der Hand die beiden Arme nochmals ornamental umschlingen und so beide Figuren wie bei einer Fesselung aneinander knüpfen.
Ob das Motiv der Fußwaschung aus der Mythologie genommen wurde, etwa der Diana, bleibt offen, sieht man doch von der Dienerin nur die den Fuß pflegende Hand. Martina Altschäfer stilisiert ihre Figuren, indem sie Licht und Schatten auf der Oberfläche des Körpers axialsymmetrisch verteilt (eine Brust verschattet und flächig, eine durchlichtet und plastisch modelliert). Sie teilt das Gesicht durch eine hälftige Auslöschung der Gesichtszüge. Die dann eingetretene voluminöse Wölbung des Schädels führt zum spannungsvollen Gegensatz von konturumzogener Plastizität und flächig, aber kalligraphisch eingetiefter Schattenpartien mit Augenbraue, Nase und Mund, sowie der zur Fläche abgerundeten Haartolle. Liniengraphisch sind die beiden Hunde umrissen, während sich das Wechselspiel von Licht und Schatten auch auf der Sitzfläche, einem angedeuteten Felsstück beobachten lässt.

Alle bisherigen Stilmittel in der Verwendung der Kontur wurden auf dem Blatt „Pferdeführer gebündelt. Der voluminöse, vitale Pferdeleib, der mit windbewegtem Haar als Silhouette aufgefasste Pferdeführer und der geometrische sich zum eigenen Bildornament verselbständigende Schatten kontrastiert mit liniengraphisch umrissenen Baumgebilden, deren Kleinteiligkeit sich am Gewand des Pferdeführers wieder finden. Hier wird das Überblenden des Hintergrundes durch die menschliche Gestalt deutlich. Ihre durch Konturlinien umschriebene Gestalt wird mit dem Ornament des Hintergrundes „bekleidet“.
Spannungsreich erzählen die fünf Holzschnitte zeitlose Geschichten, deren Motive sich wie ein roter Faden durch die Bildgeschichte der Menschheit ziehen, Pferdeführer, um ein Bild der Antinomie von ungelenkter massiger Kraft und lenkendem menschlichen Geist zu schaffen, arkadische Momente im Verschmelzen von Mensch und Natur, mythologische oder allgemein menschliche Schicksalsthemen.